Sonntag, 24. Juli 2011

Manifest eines Massenmörders

VON STEFAN SCHULTZ "2083. Eine europäische Unabhängig- keitserklärung" heißt das Buch, das Anders Behring Breivik im Internet veröffentlicht hat, kurz bevor er loszog, um fast hundert Menschen zu massakrieren. Kurz bevor er anderthalb Stunden kaltblütig tötete. Es ist eine Schrift, die ebenso verstörend ist wie die Verbrechen, die der 32-jährige Norweger begangen hat. Der Entwurf einer gespenstischen und grotesken Welt. Seiner Welt. 1516 Seiten umfasst Breiviks Schrift. 778.242 Wörter Wahnvorstellung. 4,9 Millionen Schriftzeichen wirre Ideologie. Es ist eine Antiutopie, die bis ins Jahr 2083 reicht, jenem Jahr, in dem laut Breivik der Nationalismus auf allen Ebenen herrschen soll. Neun Jahre lang hat sich Breivik diese Phantasiewelt aus rechten Blogs zusammengetragen, hat sie weitergesponnen, detailliert ausgearbeitet, hat darin gelebt, in Gedanken, einsam, allein, weitgehend abgekapselt von der Wirklichkeit. Nun versucht der Killer, möglichst viele Menschen in seine Welt hineinzusaugen. Anders Behring Breivik, das zeigt seine monströse Schrift, ist kein Amokläufer. Er sieht das Morden als Mittel zum Zweck. Das Blutbad auf der Insel Utøya vergangenen Freitag, bei dem er Mensch um Mensch erschoss, diente wohl vor allem dazu, seine irre Ideologie mit dem größtmöglichen Öffentlichkeitseffekt bekanntzumachen. Möglichst viele nationalistische Schläfer aufzuwecken. Möglichst viele passive Unterstützer zu radikalisieren. Möglichst viele Nachahmungstäter zu motivieren. Anders Behring Breivik ist nicht nur ein Massenmörder. Er will auch ein Internetdemagoge sein. Mehrfach betont er in seiner Schrift, wie wichtig ihm die Verbreitung seines Pamphlets sei. Wer es lese, möge es in E-Mails und Blogs, auf Facebook und auf allen sonstigen Kanälen weiterverbreiten und zur zusätzlichen Sicherung auf USB-Sticks speichern. Wer die Zeit habe, solle es in andere Sprachen übersetzen, bittet er in höflichem Tonfall.

"Charaktermord an Nazi-Monstern"

Als Einstieg ins Labyrinth seiner psychopathischen Gedanken hat Breivik ein YouTube-Video erstellt. Es fasst die Grundzüge seiner 1516-Seiten-Theorie in rund zwölf Minuten zusammen. Demnach hat sich die europäische Gesellschaft seit dem 2. Weltkrieg in die falsche Richtung entwickelt. Breivik beschreibt den "Aufstieg eines alles kontrollierenden Multikulturalismus". "Marxisten, todessehnsüchtige Humanisten und globalistische Kapitalisten" hätten eine weltweite Verschwörung losgetreten, die nach und nach die totale Macht "über Medien, Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen, Arbeiter- und Frauenbewegungen und die meisten Universitäten" erlangt habe. Menschen, die für ein friedliches Zusammenleben aller Völker eintreten, sind in seiner Welt die "Verfechter einer antieuropäischen Hassideologie", einer "demografischen Kriegsführung". Sollte ihnen nicht bald Einhalt geboten werden, drohe "die Auslöschung der westeuropäischen Rasse". Breivik sieht sich als Kreuzritter, der an der Spitze einer neuen "westeuropäischen Widerstandsbewegung" reitet. In seiner Schrift propagiert er die Weiterentwicklung der Templer, jenes geistlichen Ritterordens, der in Folge des Ersten Kreuzzugs entstand, als die Christen Palästina von den Muslimen zurückeroberten. Die "europäische Reinigung" müsse ebenso gewaltsam sein wie dieser Kreuzzug, schreibt Breivik. Ein ganzes Kapitel lang legt er detailliert dar, warum es ausdrücklich nötig sei, Frauen zu töten. So lasse sich besonders gut Druck aufbauen, um die eigenen politischen Ziele durchzusetzen. Das Video ist ein Alptraum von Propagandabildern. Ein Henker mit BBC-Logo, der "Charaktermord an Nazi-Monstern" begeht. Ein fetter Mann im Hammer-und-Sichel-Armeeanzug, der sich einen Latexhandschuh überstreift - Bildunterschrift: "Kulturelle Marxistische Vergewaltigung Europas". Ein Mann, der die Säule der westlichen Zivilisation auf seinen Händen trägt, in seinem Mund eine Waffe, auf der "Liberalismus" steht, am Abzugshahn der Zeigefinger des Islams. Untermalt wird das Video von düsteren Streicherklängen und dem melancholischen Sopran der Folkloresängerin Helene Bøksle. Protokoll des Bombenbaus Immer wieder verliert sich Breivik in Allmachtsphantasien. An einer Stelle in dem Buch stellt er den westeuropäischen Staaten eine Art Ultimatum. Der neue Templerorden werde Westeuropa militärisch verschonen, sollte es sich bis zum 1. Januar 2020 ergeben, schreibt er. Dazu müssten die entsprechenden Staaten aber alle Führungskräfte des Militärs und alle wichtigen Posten in der Regierung mit Patrioten besetzen, eine "neue Geburtenpolitik" einführen, die "islamische Besatzung des Balkans beenden" und "die Medien reformieren". Das Pamphlet enthält eine Passage, in denen Breivik sich selbst interviewt. Er sei ein "grundsätzlich entspannter, recht toleranter Mensch", erklärt er. Er habe viele Freunde aus anderen Ländern. Er habe nichts gegen andere Nationalitäten - nur gegen deren Vermischung mit seiner eigenen. Er beschreibt seine Freundschaft mit einem Pakistaner, von dem er gehofft habe, er würde das norwegische Wertesystem annehmen - und der später angeblich an der Massenvergewaltigung einer Norwegerin beteiligt gewesen sein soll. Und er beschreibt die Beziehung zu seinen Geschwistern - und zu seinem Stiefvater. Der sei ein "primitives sexuelles Biest", das die meiste Zeit "mit Prostituierten in Thailand" verbringe, aber gleichzeitig ein "guter, liebenswerter Mensch". Die Schrift enthält zudem ein Protokoll, in dem Breivik minutiös schildert, wie er das Bombenattentat auf das Osloer Regierungsviertel vorbereitet hat. "Ich habe insgesamt neun Jahre an diesem Projekt gearbeitet", schreibt er. Zu Beginn habe er sich entscheiden müssen, ob er "eine Familie mit drei bis fünf Kindern" gründe oder "sich komplett auf seine Mission einer europäischen Widerstandsbewegung fokussieren.

Terrorgeld in Steueroasen

Nachdem die Entscheidung gefallen war, habe er zunächst fünf Jahre studiert und sich eine finanzielle Basis verschafft. Breivik beschreibt, wie er zwölf Stunden täglich für seine Firma, die E-Commerce Group, arbeitete. Wie er sich Geld auf das eigene Konto überwies, um sich möglichst viele Kreditkarten mit entsprechenden Darlehen zu erschummeln. Wie er Geld in Steueroasen bunkerte, unter anderem in Antigua. "Die vergangenen drei Jahre habe ich Vollzeit an meinem Kompendium geschrieben", schreibt Breivik. Es habe ihn rund 317.000 Euro gekostet. Die letzten Monate bis zum Attentat hält Breivik in einer Art Logbuch fest. Er schildert, wie er seine Bombe baut. Wie er sich das Vertrauen eines Grundbesitzers erschleicht, der ihm schließlich das Land verpachtet, auf dem er sich versteckt. Der Mann habe eingewilligt, "weil er selbst ins Gefängnis musste", schreibt Breivik. Angeblich, weil er sein Land zuvor an jemanden verpachtet hatte, der es als Haschischfarm nutzte. Breivik beschreibt, dass er anabole Steroide einnahm und viel trainierte, um in den vier Monaten vor der Tat seinen Körper in Form zu bringen. Und er schildert, wie eine plötzliche Krankheit das Attentat angeblich fast vereitelte: "Am 9. April steckte ich mich bei meiner Mutter mit einem Virus an. Es war schon das dritte Mal in zwei Jahren, dass sie mich angesteckt hatte, und ich war wütend und frustriert. Ich dachte, die Krankheit würde innerhalb einer Woche vorübergehen, doch sie erwies sich als sehr widerstandsfähig. Mein Energielevel fiel um mehr als 50 Prozent. Am 25. April ging es mir besser. Ich war nun praktisch immun gegen alle Bakterien und Viren, weil mein Immunsystem von dem Virus deutlich gestärkt wurde." Es ist eine jener Passagen, die zeigen, wie stark Breivik seinen Realitätsbezug verloren hat - und die Zweifel am Wahrheitsgehalt seiner anderen Schilderungen wecken. Inwieweit diese der Realität entsprechen, könnte sich allerdings bald herausstellen. Denn der Massenmörder nennt in seiner Schrift alle Verwandten, und Freunde, alle Geschäftspartner und sonstigen Bekannten mit vollem Namen. Es dürfte in den kommenden Wochen eine Menge Menschen geben, die in den Strudel seiner Gräueltaten geraten.
Das Logbuch des Massenmörders endet mit einer gespenstischen Notiz. "Ich glaube, das hier ist mein letzter Eintrag", schreibt Breivik. "Es ist jetzt Freitag, der 22. Juli, 12.51 Uhr."