Donnerstag, 19. Juli 2012

Hunger, Dreck und Schläge

WIESBADEN. Hunger, Dreck und Verwahrlosung: Extreme Vernachlässigung ist der Hauptgrund, wenn Richtern Eltern das Sorgerecht für ihre Kinder entziehen. Darin ist sich die Fachwelt einig. Schwerwiegende Ernährungs- und Hygienemängel sowie eine starke emotionale und soziale Vernachlässigung erlebt Richter Stefan Heilmann vom Familiensenat des Frankfurter Oberlandesgerichts immer wieder. "Es gibt Eltern, die haben keinerlei Empathie und können gar nicht erkennen, was ihr Kind braucht." Gewalt, psychische Erkrankungen und Suchtprobleme spielen oft auch eine Rolle.
Deutsche Familiengerichte haben wegen der Gefährdung des Kindeswohls Eltern im vergangenen Jahr nahezu doppelt so oft das Sorgerecht entzogen wie vor zwanzig Jahren. Etwa 12 700 Kinder waren von dieser Entscheidung betroffen. Das waren rund 5700 mehr als vor 20 Jahren und etwa 4600 mehr als vor zehn Jahren, wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden berichtete.
Im Vergleich zum Rekordjahr 2010 waren es zwar 48 Kinder weniger, deren Eltern das Sorgerecht ganz oder teilweise verloren haben. Die Quote stieg aber 2011 erstmals auf zehn von 10 000 Kindern. Im Vorjahr hatte sie noch neun betragen. In den Jahren 1991 bis einschließlich 2004 waren fünf von 10 000 Kindern und Jugendlichen betroffen.
Zum Sorgerecht gehört das Wohlergehen des Kindes und die Verwaltung seines Vermögens. Das Recht kann ganz oder teilweise entzogen werden. Die Familiengerichte können zudem beiden Eltern oder nur einem Elternteil das Sorgerecht aberkennen. Das Sorgerecht für etwa 9600 Mädchen und Jungen übertrugen die Gerichte im vergangenen Jahr auf die Jugendämter. Bei jedem fünften von ihnen wurde den Ämtern nur das Recht zugesprochen, über den Aufenthalt des Kindes zu bestimmen. Bei den übrigen 3100 Kindern übernahmen andere Erwachsene oder ein Verein das Sorgerecht.
Urteilen die Gerichte inzwischen strenger? "Die verfassungsrechtlichen Maßstäbe für den Entzug des Sorgerechts sind sehr hoch", erläutert Heilmann. Das körperliche, psychische oder geistige Wohl des Kindes müsse so stark gefährdet sein, dass es mit ziemlicher Sicherheit zur erheblichen Schädigung führe, wenn nicht eingegriffen werde, formuliert es Kindler. Und: Die Eltern können oder wollen diese Gefahren nicht abwenden.
Heinz Kindler vom Deutschen Jugendinstitut in München hält drei Gründe für die häufigere Aberkennung des Sorgerechts für möglich: Eine höhere Bereitschaft von Jugendämtern und Familiengerichten einzugreifen, reaktionsschnellere Kinderschutzsysteme sowie mehr gefährdete Kinder. Dass Jugendämter genauer hinschauen, zeigt das Beispiel Frankfurt. Im November 2008 richtete die Stadt ein Kinder- und Jugendschutztelefon ein, an dem Fachleute auch abends und an Wochenenden für überforderte Eltern und verzweifelte Kinder zu erreichen sind. Mehr als 3300 Mal klingelte es im vergangenen Jahr.
Nachholbedarf sehen Fachleute darin, was nach dem Entzug des Sorgerechts passiert. "Es ist eine Sache, ein Kind zu schützen und es mit guten Gründen aus einer Familie heraus zu nehmen und eine andere, wie sich eine Gesellschaft um die weitere Entwicklung der Kinder kümmert", sagt Kindler.
Die Vorsitzende des Bundesverbands der Pflege- und Adoptivfamilien (PFAD), Dagmar Trautmann, fordert eine rechtliche Sicherung von Dauerpflegeverhältnissen. Ein Sorgerechtsentzug allein biete den Kindern keine Sicherheit oder gar eine Perspektive, denn die Eltern könnten dieses Recht immer wieder neu beantragen.