Montag, 26. Juli 2010

Totentanz der Spaßgesellschaft

Mindestens 20 Tote und Hunderte von Verletzten - so die bisherige Bilanz der wahrscheinlich letzten Loveparade am Samstag in Duisburg. Während die Politiker aus nah und fern gebetsmühlenartig (und PR-wirksam) ihre Trauer bekunden und (große?) Teile der Bevölkerung in die üblichen reflexartigen Betroffenheitsrituale verfallen, kreist die Berichterstattung der Medien mangels belastbarer Fakten um sich selbst.
Im Mittelalter gab es die Inquisition, heute heißt das "Sondersendung", "extra" oder "spezial". Hier dürfen sich alle die zu Wort melden, die es immer schon besser wussten, und die Schuldigen sind schnell indentifiziert: der Veranstalter, der Bürgermeister, der Polizeipräsident, der Panikforscher. Denn wer auf Fragen von Journalisten nicht die gewünschten Antworten liefert, der verschweigt die Wahrheit - oder? Das war ja bei der Inquisition auch so, doch zum Glück für die Beschuldigten hat das Schweigen heute nicht mehr dieselben Folgen wie damals. Ein Hoch auf die Trennung von Iudikative und Exekutive!
Aber wer ist denn nun schuld? Einfache Antwort: die Gier der Menschen! Die Gier nach Profilierung, die Gier nach Profit und letztendlich auch die Gier nach Vergnügen haben in ihrem Aufeinandertreffen zur Katastrophe geführt. "Ich hätte nie gedacht, dass Leute so scheiße zueinander sein können...Deshalb sollte diese Veranstaltung nicht mehr gemacht werden", sagte eine junge Besucherin in einem Fernsehinterview. Mit "Leute" meinte sie die anderen Besucher. Das macht nachdenklich.
Wer hielt sich nicht an die Anweisungen der Sicherheitskräfte? Wer durchbrach im Vergnügungswahn Absperrungen, die gerade einen Massenandrang im Tunnel verhindern sollten? Wer kletterte an Wänden, Masten etc. hoch, um die Absperrungen zu umgehen und somit aufs Veranstal- tungsgelände zu gelangen und stürzte dabei teilweise ab? Wer trampelte auf die, die am Boden lagen? Wer versperrte den Rettungskräften den Weg zu den Opfern? Wer hatte trotz "Massenpanik" die Muße, in und am Tunnel zu filmen und zu fotografieren, und stellte das anschließend zigfach ins Internet? Die Antworten auf diese Fragen findet man genau dort, im Internet, und sie lautet: die Besucher.
In einer Sondersendung des WDR am heutigen Montag äußerte ein Zuschauer per Mail ins Studio den Wunsch, man sollte doch im nächsten Jahr auf jeden Fall wieder eine Loveparade veranstalten, quasi als Gedenk- und Aufarbeitungsveranstaltung zur Katastrophe in Duisburg. Anstatt diese Unsäglichkeit ungesendet in den Tiefen des elektronischen Papierkorbs ihrem wohlverdienten Ende zuzuführen, entblödet sich die Moderatorin nicht, diesen Vorschlag von der "Expertenrunde" auf dessen Sinnhaftigkeit prüfen zu lassen. Dummheit ist also steigerbar, obwohl es kein Adjektiv ist.
Unsere Gesellschaft ist krank und die Ereignisse der letzten Loveparade sind nur ein Symptom. Wenn der Weg der Spaßgesellschaft buchstäblich über Leichen führt, stünde es den selbsternannten "investigativen" Journalisten und den "betroffenen" Politikern gut zu Gesicht, sich mal kritisch bzw. konstruktiv mit diesem Phänomen auseinander- zusetzen. Wenn Konsum und Spaß in unserer Gesellschaft keine Grenzen kennen oder anerkennen und sich als einzig verbliebene gemeinschaftstiftende Faktoren herauskristallisieren, klingen Schlagzeilen wie "Die Deutschen sterben aus!" jedenfalls eher wie ein Heilsversprechen als wie ein Problem.

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