WIESBADEN.
Hunger, Dreck und Verwahrlosung: Extreme Vernachlässigung ist der
Hauptgrund, wenn Richtern Eltern das Sorgerecht für ihre Kinder
entziehen. Darin ist sich die Fachwelt einig. Schwerwiegende Ernährungs-
und Hygienemängel sowie eine starke emotionale und soziale
Vernachlässigung erlebt Richter Stefan Heilmann vom Familiensenat des
Frankfurter Oberlandesgerichts immer wieder. "Es gibt Eltern, die haben
keinerlei Empathie und können gar nicht erkennen, was ihr Kind braucht."
Gewalt, psychische Erkrankungen und Suchtprobleme spielen oft auch eine
Rolle.
Deutsche Familiengerichte haben wegen der Gefährdung
des Kindeswohls Eltern im vergangenen Jahr nahezu doppelt so oft das
Sorgerecht entzogen wie vor zwanzig Jahren. Etwa 12 700 Kinder waren von
dieser Entscheidung betroffen. Das waren rund 5700 mehr als vor 20
Jahren und etwa 4600 mehr als vor zehn Jahren, wie das Statistische
Bundesamt in Wiesbaden berichtete.
Im Vergleich zum Rekordjahr 2010 waren es zwar 48
Kinder weniger, deren Eltern das Sorgerecht ganz oder teilweise verloren
haben. Die Quote stieg aber 2011 erstmals auf zehn von 10 000 Kindern.
Im Vorjahr hatte sie noch neun betragen. In den Jahren 1991 bis
einschließlich 2004 waren fünf von 10 000 Kindern und Jugendlichen
betroffen.
Zum Sorgerecht gehört das Wohlergehen des Kindes und
die Verwaltung seines Vermögens. Das Recht kann ganz oder teilweise
entzogen werden. Die Familiengerichte können zudem beiden Eltern oder
nur einem Elternteil das Sorgerecht aberkennen. Das Sorgerecht für etwa
9600 Mädchen und Jungen übertrugen die Gerichte im vergangenen Jahr auf
die Jugendämter. Bei jedem fünften von ihnen wurde den Ämtern nur das
Recht zugesprochen, über den Aufenthalt des Kindes zu bestimmen. Bei den
übrigen 3100 Kindern übernahmen andere Erwachsene oder ein Verein das
Sorgerecht.
Urteilen die Gerichte inzwischen strenger? "Die
verfassungsrechtlichen Maßstäbe für den Entzug des Sorgerechts sind sehr
hoch", erläutert Heilmann. Das körperliche, psychische oder geistige
Wohl des Kindes müsse so stark gefährdet sein, dass es mit ziemlicher
Sicherheit zur erheblichen Schädigung führe, wenn nicht eingegriffen
werde, formuliert es Kindler. Und: Die Eltern können oder wollen diese
Gefahren nicht abwenden.
Heinz Kindler vom Deutschen Jugendinstitut in München
hält drei Gründe für die häufigere Aberkennung des Sorgerechts für
möglich: Eine höhere Bereitschaft von Jugendämtern und Familiengerichten
einzugreifen, reaktionsschnellere Kinderschutzsysteme sowie mehr
gefährdete Kinder. Dass Jugendämter genauer hinschauen, zeigt das
Beispiel Frankfurt. Im November 2008 richtete die Stadt ein Kinder- und
Jugendschutztelefon ein, an dem Fachleute auch abends und an Wochenenden
für überforderte Eltern und verzweifelte Kinder zu erreichen sind. Mehr
als 3300 Mal klingelte es im vergangenen Jahr.
Nachholbedarf sehen Fachleute darin, was nach dem
Entzug des Sorgerechts passiert. "Es ist eine Sache, ein Kind zu
schützen und es mit guten Gründen aus einer Familie heraus zu nehmen und
eine andere, wie sich eine Gesellschaft um die weitere Entwicklung der
Kinder kümmert", sagt Kindler.
Die Vorsitzende des Bundesverbands der Pflege- und
Adoptivfamilien (PFAD), Dagmar Trautmann, fordert eine rechtliche
Sicherung von Dauerpflegeverhältnissen. Ein Sorgerechtsentzug allein
biete den Kindern keine Sicherheit oder gar eine Perspektive, denn die
Eltern könnten dieses Recht immer wieder neu beantragen.