Dienstag, 31. Juli 2012

Kinderbetreuung im Seniorenheim

MAINZ. Wenn Alessia (13 Monate) und Joel (elf Monate) im Zwillings-Buggy durch die Flure des Seniorenheims in Nieder-Olm bei Mainz gefahren werden, ernten sie viele verzückte Blicke - und manche Streicheleinheit. Dabei sind die Kinder ziemlich oft hier: Als ihre Mütter, die beide im Haus arbeiten, im vergangenen Jahr in den Mutterschutz gingen, entschloss sich das Management zu einer ungewöhnlichen Maßnahme: Um nicht bis zu drei Jahre lang auf die Kolleginnen verzichten zu müssen, werden in der Seniorenresidenz seit zwei Monaten nicht nur alte Menschen, sondern eben auch Alessia und Joel betreut.
"Ich wollte Joel ungern mit zehn Monaten in eine Krippe abgeben", sagt Joels Mutter, Pflegedienstleiterin Murielle Krischer. Das Angebot ihres Arbeitgebers, den Jungen einfach mitzubringen, fand sie jedoch so attraktiv, dass sie zusagte. Die Betreuung ist für die beiden Mitarbeiterinnen kostenlos, im Gegenzug verzichteten beide aber vorerst auf eine Gehaltserhöhung. Krischer hofft, dass sich die Initiative herumspricht und das Heim für andere Pflegekräfte interessant macht, denn offene Stellen gibt es in Nieder-Olm eigentlich immer.
Zwei Räume im Trakt für Betreutes Wohnen hat die Heimleitung hergerichtet, ein Spielzimmer und eine "Schlummer-Stubb" mit zwei Bettchen. Jetzt wird diskutiert, wo auf dem Gelände der Alteneinrichtung eine Schaukel für die Kleinen aufgebaut wird. Weil die beiden Mütter stets in Rufbereitschaft sind, ist für die Versorgung der Kinder durch eine Betreuerin keine behördliche Genehmigung erforderlich. Die gemeinnützige Gesellschaft für ambulante und stationäre Altenhilfe (GFA), der Träger des Heims, plant mittlerweile, ein ähnliches Angebot auch auf andere Einrichtungen auszuweiten.
Auch manche Senioren genießen es, dass die Kinder Abwechslung in den Alltag bringen. "Man sieht richtig das Glänzen in den Augen der alten Leute", berichtet Jessica Deutrich, die für die Kinderbetreuung im Seniorenheim zuständig ist. Rüstige Bewohnerinnen schauen regelmäßig zum Spielen bei ihr und den Kindern vorbei oder nehmen alle drei gleich mit in ihre Wohnungen. "Ich sitze mit ihnen auf dem Teppich, fahre sie im Wagen spazieren, und gestern haben wir eine ganze Stunde auf der Terrasse gespielt", erzählt Ruth Leymann, die in der Seniorenresidenz eine kleine Wohnung hat.
Bislang sind die Kleinkinder im Nieder-Olmer Altenheim ein bundesweit ziemlich einmaliger Fall. In der Landeshauptstadt Mainz stößt das Projekt aber bereits auf großes Interesse: "Die Landesregierung begrüßt mit Freude die Bestrebungen von Arbeitgebern, für berufstätige Eltern bedarfsgerechte Kinderbetreuungsangebote zu entwickeln, und ist offen für innovative Ideen", teilte das Familienministerium auf Anfrage mit. Seit Juni 2012 fördert auch der Bund Projekte zur Kindertagespflege in Unternehmen, durch die zusätzliche Betreuungsplätze für unter Dreijährige entstehen sollen.
Weil es immer schwieriger wird, Fachpersonal für die Altenpflege anzuwerben, machen sich Träger von Heimen und Pflegediensten Gedanken, wie sie für Beschäftigte attraktiver werden könnten. Die hessen-nassauische Diakonie etwa hat ein Familienbudget für ihre Mitarbeiter aufgelegt, das Kosten für die Kinderbetreuung übernimmt. Betriebs-Tagesmütter oder Kinderkrippen lösen jedoch nicht automatisch die Fachkräfteprobleme der Altenpflege. Ein Heim im hessischen Hünfeld, das ebenfalls mit der Betreuung von Mitarbeiterkindern experimentierte, hat das Angebot inzwischen wieder eingestellt - wegen mangelnder Nachfrage. In Nieder-Olm könnten Alessia und Joel in ihrem Spielzimmer hingegen bald Gesellschaft bekommen. "Wir haben zwei Schwestern, die im Oktober ihre Kinder kriegen", erzählt Murielle Krischer.